The Best Decision
Article within the current edition of the KIT magazine lookKIT on information at the Karlsruhe Institute of Technology, Edition 4/2018. The text was written in German, an excerpt is available in English at the end of the text.
Wir treffen täglich hunderte, wenn nicht tausende Entscheidungen. Ob es die Wahl des Frühstücks ist oder die des Arbeitswegs, ob es Entscheidungen im privaten oder im geschäftlichen sind: die moderne, globalisierte Welt bietet mehr Wahlmöglichkeiten denn je. Die schiere Anzahl macht es uns unmöglich, für jede Entscheidung den gleichen, reflexiven und langsamen Prozess einer rationalen Entscheidungsfindung zu durchlaufen. Die Lösung? Entweder wir entscheiden aus Gewohnheit, wir vertrauen auf das Urteil anderer oder wir entwickeln Werkzeuge, die rationale Entscheidungen besser treffen können als wir – wie zum Beispiel eine Künstliche Intelligenz (KI).
Michael Feindt, Professor am Institut für Experimentelle Teilchenphysik des KIT und Gründer der Softwarefirma Blue Yonder, hat Jahre vor dem derzeitigen KI-Hype genau das getan: Das ursprüngliche Werkzeug heißt NeuroBayes und ist ein Algorithmus für die Elementarteilchenphysik. Seine Firma bietet damit in diversen Weiterentwicklungen seit 2008 optimierte Entscheidungen für den Einzelhandel an.
„Eine Supermarktkette trifft im Mittel 20 Millionen Entscheidungen pro Tag“, sagt Michael Feindt. Der Großteil davon sind Routineentscheidungen – wie viel Frischfleisch soll beim Lieferanten bestellt werden, zu welchem Preis sollen die Konserven verkauft werden? Bisher mussten Menschen diese Entscheidungen treffen. Steht ein Großevent an? Dann lieber mehr in die Regale, damit die Kundinnen und Kunden nicht enttäuscht vor dem leeren Regal stehen. Doch all diese Entscheidungen rational und optimal zu treffen, ist für Menschen fast unmöglich. Das Problem ist die Art und Weise, wie Menschen Entscheidungen treffen: entweder schnell und aus Gewohnheit oder langsam und durchdacht. „Menschen tendieren dazu, das weiß man aus der psychologischen Forschung, nicht immer alle Faktoren objektiv zu beachten“, so Feindt. Computer hingegen haben überhaupt kein Problem damit, bei einer großen Menge an Daten eine rationale Entscheidung zu treffen. Mit genügend Rechenleistung ist das auch bei 20 Millionen Entscheidungen möglich.
Die Software von Blue Yonder kann individuell für jeden Artikel und jede Filiale eine Wahrscheinlichkeitsverteilung prognostizieren und daraus mit einer individuellen Kosten-/Nutzenfunktion optimale Entscheidungen treffen. Das System bestellt dann vollautomatisch die voraussichtlich benötigten Waren, die letztendlich im Supermarkt landen. Sie trifft damit genauer als jeder Mensch den tatsächlichen Bedarf, womit nicht nur der Gewinn steigt, sondern als positiver Nebeneffekt sowohl die Kunden eine höhere Warenverfügbarkeit vorfinden als auch weniger Lebensmittel im Müll landen.
Mit der Übernahme von Blue Yonder durch das amerikanische Supply Chain-Unternehmen (dt. Lieferkette) JDA Software ist jetzt die Idee entstanden, die selbstlernenden Prognosewerkzeuge von Blue Yonder in allen Schritten einer Lieferkette anzuwenden. Eine Lieferkette besteht nicht nur aus Lieferanten, Markt und Kunden, sondern geht wesentlich weiter zurück bis hin zu den Grundressourcen. Am Ende soll der gesamte Prozess automatisiert sein: Vom Ressourcenabbau und der Produktion bis hin zum Endkunden sollen nur die Waren erzeugt werden, die auch tatsächlich benötigt werden. Wird dann die Ware an die Tür geliefert, bevor ich sie überhaupt bestellt habe? „Ganz so schlimm ist es noch nicht“, fügt Feindt schmunzelnd hinzu, „aber das Versandhaus kann sie jetzt schon vorsorglich bereitstellen.“
In der Branche steckt eine Menge Brainpower, und die ist in der heutigen Zeit des ‚KI-Hypes‘ immer begehrter. Sogenannte Data Scientists benötigen umfassende mathematische Grundlagen – logisches und analytisches Denken – sowie Programmierkenntnisse, um die gestellten Aufgaben auch praktisch zu lösen. Hinzu kommt die Fähigkeit, diese Fachkenntnisse auch in Laiensprache zu übersetzen und die Produkte zu verkaufen. „Daten sind das neue Öl, das hat mittlerweile jeder begriffen“, erklärt Feindt. Allerdings gebe es seit dem Hype auch viel Unwissen auf dem Markt, jeder versuche auf den Marketingzug aufzuspringen und seine Produkte als KI-unterstützt und datengetrieben zu verkaufen. Und das ist gerade in einer Zeit gefährlich, in der die Diskussion um das Thema KI erst so richtig beginnt. „Aus meiner Sicht sind Daten und Algorithmen eine scharfe Waffe, die können wir für das Gute und die können wir für das Schlechte einsetzen“, macht Feindt deutlich und stellt auch klar: „Wichtig ist, dass eine Diskussion geführt wird – und die findet gerade statt“. Dafür ist es aber essenziell, beide Seiten zu beleuchten. Die Diskussion nur auf das Negative zu lenken, hält er für falsch: „Wir sind Teil einer globalisierten Welt und können uns nicht isoliert betrachten“. Entwicklungen in den USA und Asien sind in vollem Gange und Datenschutzbedenken werden dort viel seltener geäußert als hier. Der Spagat zwischen rasantem technischen Fortschritt und hohen moralischen Standards ist schwer. „Am Ende des Tages kaufen eben doch alle bei Amazon und haben ein Smartphone“, merkt Feindt an.
Was bei neuer Technik hilft, ist die Möglichkeit, dafür ein Verständnis zu entwickeln. Etwas, das gerade im Bereich der Künstlichen Intelligenz immer wieder kritisiert wird. Zum einen ist ‚Künstliche Intelligenz‘ ein unscharfer Begriff. Das Spektrum reicht von der generellen beziehungsweise starken KI, die mit Fragestellungen wie Bewusstsein verknüpft wird, bis zur schwachen KI. Schwache KI beschreibt Lösungen für klar umrissene Probleme, ist lernfähig und kann spezielle Aufgaben wesentlich besser als Menschen lösen. Hinzu kommt, dass viele KI-Anwendungen von einem Blackbox-Gedanken geprägt sind: Das Werkzeug lernt aus einer großen Menge an Daten, wie es eigenständig die Fragestellung immer besser bearbeiten kann. Das Ergebnis ist optimal, aber nicht einmal die Entwickler können genau nachvollziehen, wie das System arbeitet.
Bei Blue Yonder hat man gemerkt, dass aber gerade eine Erklärbarkeit wichtig ist, wenn das System angeboten wird. So sind sie vor einigen Jahren dazu übergegangen, ihre Algorithmen zu überarbeiten. Zunächst aus Eigeninteresse, um Ergebnisse besser abzusichern, haben sie die Algorithmen nachvollziehbar gemacht. Die entstandene Software lieferte dann aber sogar Ergebnisse, die der Blackbox KI ebenbürtig waren. Der positive Nebeneffekt der Erklärbarkeit führte schließlich dazu, dass 99 Prozent der Entscheidungen des Systems im Zweifelsfall nachvollzogen werden können. „Mathematisch ist das egal, aber psychologisch spielt das eine Rolle“, erläutert Feindt.
Und die psychologische Akzeptanz ist in vielen Bereichen, in denen neue datengetriebene Methoden eingesetzt werden könnten, elementar wichtig. „Meine Hoffnung ist, dass mehr Wissen und Rationalität in strategischen Entscheidungsprozessen eine Rolle spielen, als das bisher der Fall ist. Die Tendenz zu Gefühls- und Machtentscheidungen, wie sie zurzeit auch von der Politik und dem ganzen Populismus getroffen werden, findet zwar einfache Lösungen, aber sicher keine guten“, fügt Feindt noch hinzu. Er sieht außerdem großes Potenzial in der Medizin: „Ärzte leiden darunter, wie jeder Mensch, dass sie viele Entscheidungen mit ihrem schnellen Entscheidungssystem lösen. Es bleibt nicht die Zeit, um wirklich alle Kriterien zu betrachten – wie auch? Aber ein Tool, dass vollautomatisch alle Akten des Patienten analysiert, Faktoren einberechnet und dem Arzt eine Wahrscheinlichkeitsverteilung vorlegt, das wäre heute schon möglich.“ Das Tool könnte als Hilfestellung für den Arzt dienen, der am Ende die Daten des Computers auswertet und die letzte Entscheidung trifft. Dabei darf natürlich der Datenschutz nicht hintenan bleiben. „Man muss generell aufpassen, dass das nicht ausgenutzt und der Datenschutz übergangen wird. Aber wenn eine gute Diskussion dazu geführt wird, dann kann das die Menschheit massiv weiterbringen“, fasst Feindt die Lage zusammen.
Info und Kontakt: www.blueyonder.ai/de
Excerpt in English
How AI Helps Retailers Increase Sales and Profits
Translation: Heidi Knierim
“A supermarket chain makes an average of 20 million decisions a day,” says Michael Feindt, Professor at the Institute of Experimental Particle Physics at KIT and founder of the software company Blue Yonder. The majority of these are routine decisions - how much fresh meat to order, at what price to sell the canned food. Blue Yonder offers a solution to these decisions: From experience data and current factors such as weather and day of the week, their software calculates how much of which goods must be ordered. The decisions made are therefore much more accurate than any human decision. This not only means that no customer stands in front of empty shelves. It also ensures that less is left on the shelves and therefore less has to be thrown away.
Blue Yonder was recently acquired by the American supply chain company JDA Software. The goal is to apply Blue Yonder’s idea to all steps of a supply chain. From resource reduction to production through to the end customer – in the end, it can predict what the demand will be. Will the goods then be delivered to the door before I have even ordered them? “It is not that bad yet,” Feindt smiles and adds “but the mail-order company can already make them available as a precaution.”
Certainly, there is currently kind of an ‘AI hype’. “Data is the new oil, everyone has understood that by now,” explains Feindt. Everyone wants to jump on the marketing bandwagon right now and have a data scientist in their company. Feindt makes it clear: “It is important that a discussion is held - and this discussion is currently taking place.” It is essential, however, to shed light on both sides. Michael Feindt considers it wrong to focus the discussion only on the negative: “We are part of a globalized world and cannot view ourselves in isolation. The new technology offers much potential to do good for mankind. This starts with sustainability in the supermarkets, and extends to the health sector. It is already possible today to provide physicians with a tool that analyzes the patient record, considers current factors, and finally presents a probability distribution of possible diagnoses. “You have to take care that this is not exploited and that data protection is not ignored. But if a good discussion is held about this, then it can bring humankind massive progress,” Feindt says, summing up the situation.
Information and contact: www.blueyonder.ai/de